Dienstag, 8 Uhr in Möggers.
Der letzte Blogeintrag ist vom 19. Januar 2017 und wieder einmal sitze ich da, kopfschüttelnd und bin überrascht und überwältigt, wie schnell sich ein Leben ändern kann. In der einen Sekunde läufst du den besten Halbmarathon deines Lebens und in der nächsten liegst du auf der Liege deines Physiotherapeuten, weil du keinen Schritt mehr vor den anderen setzen kannst.
Gut, dazwischen liegen rund 6 Monate und viele life-changing Momente. Aber im Endeffekt dauerte das alles nur ein Augenzwinkern lang. So fühlt es sich an. Schon seit Wochen habe ich sehr zu kämpfen mit dem Laufen. Wir stehen sozusagen auf Kriegsfuß miteinander. Besser gesagt: auf Kriegsfüßen! Und gestern war der Leidensdruck dann hoch genug, dass ich mal wieder meinen Jürgen aufgesucht habe, der mir bereits 2014 und 2015 aus der Bewegungsapparat-Patsche geholfen hat.
„Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?“, fragt er mich, als ich mich vor seiner Liege aufstelle. „Lange genug, dass du inzwischen verheiratet bist, zwei Kinder hast und ich fast geschieden bin“, lautet meine Antwort. Beinahe 2 Jahre ist es her. Und es hat sich viel getan, wie ich merke. Ich stelle mich vor ihn hin, er bewegt mich vorsichtig nach rechts, nach links, vorne und hinten … „Hmmm … beim letzten Mal, war es dein rechtes Bein … aber sei mal ehrlich: Jetzt stehst du ja auf keinem deinem der Füße richtig! Du hast überhaupt keinen sicheren Stand mehr. Weder links noch rechts. Oje oje oje …“.
Schlechtes Gewissen macht sich breit. Auf der Liege liegend biegt er mein Bein hin und her. Lässt mich die Ferse nach vorne schieben. „Nein, nicht so! Du kompensierst schon wieder über dein Becken. Die Kraft muss aus dem Pomuskel kommen … ja, genau – so!!!“.
„Boah, Mann, das tut aber weh“, jammere ich. „Was ist denn das?“ Jürgen – in seiner gewohnt charmanten Art, erwidert trocken: „Das ist vergammelte Muskulatur. Da hast du ja sauber ruiniert, was wir uns aufgebaut haben.“ Danke für die Unterhaltung. Ich geh dann jetzt. Okay, nein, ich bleibe … „Weißt du Jürgen, ich war mir von Anfang an nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, wieder zu dir zu kommen. Jetzt bin ich mir sicher.“ „Jetzt bist du dir sicher, dass es eine blöde Idee war“, lacht er. Ja und nein. Ich werde mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert. Sage ihm, dass sich mein gesamter Körper wie ein Wackelpudding anfühlt mit NULL Körperspannung. Alles hängt irgendwie irgendwo rum. Kein Teil weiß mehr, wo er eigentlich hingehört.
„Ja, das stimmt“, antwortet er auf meine Bemerkung hin, „und wenn du dir jetzt überlegst, was die letzten Monate bei dir so abgegangen ist mit Trennung, Neuorientierung, das private Leben mal um 180 Grad gedreht, das eigene Zuhause aufgeben – dann spiegelt dir dein Körper einfach deine Situation wider. Im Moment ist alles aus den Fugen und das ist verständlich.“ Puh, ja. So hab ich das bisher noch nicht gesehen und er hat recht, mit allem, was er sagt. Aber ich spüre, dass es jetzt nach einer langen Trauerphase und viel Orientierungslosgikeit an der Zeit ist, mit den „Aufräumarbeiten“ zu beginnen. Auf allen Ebenen. Mein Körper und das Laufen sind eine davon.
„Du bist wie der Bagger, der auf meiner Baustelle wieder alles dorthin schiebt, wo es hingehört, damit das Fundament steht“,
philosophiere ich, während er mir innerhalb von Sekunden einen fiesen Po-Muskelkater beschert. Er stimmt mir zu und ich denke mir, dass es eigentlich nicht so schlimm ist, weil ich jetzt wieder Hilfe habe. Ich habe den ersten Schritt gemacht, bin zu ihm gegangen und wir fangen wieder an, zusammen zu arbeiten. Eins liegt mir aber noch im Magen … „Jürgen, ich sollte in 2 Wochen am Bodensee Frauenlauf teilnehmen.“ Hochgezogene Augenbrauen und ein belustigtes Grinsen. „Judith, an dem Tag hast du Migräne. Oder was immer du willst, aber du wirst nicht laufen.“
Umpf. Nicht laufen. Mal wieder … erst bin ich etwas geschockt, enttäuscht, verärgert. Dann merke ich: „Hey, das kenn ich ja schon. Das kann ich.“ Mir eingestehen, dass etwas nicht funktioniert, nach außen auch zugeben, dass ich nicht unfehlbar bin und im Hintergrund mit den Arbeiten an mir anfangen. Damit wieder bessere (Lauf)-Zeiten kommen. Das kann ich wirklich. Und wenn das heißt, dass ich am 26.5. mit meinen Turtle-Mädels nur einen Smoothie schlürfe und sie vom Rand aus anfeuere, weil ich erstmal wieder „grundsaniert“ werden muss, wie Jürgen sagt, dann ist das eben so. Ich betrachte meinen Phönix, der auf meinem rechten Arm fliegt („mehr Farbe hast du auch bekommen in den letzten 2 Jahren“) und denke, dass das eine meiner Aufgaben zu sein scheint. Fliegen, abstürzen, verbrennen, wieder aufstehen, weiterfliegen …
Vielleicht ganz gut, dass dieses Jahr überhaupt keine Läufe geplant sind für mich. Vielleicht ganz gut, wenn ich das Projekt „Aufräumarbeiten“ einfach mal nur für mich, meinen Geist und meine Seele starte. Ohne Laufziel. Aber mit dem Ziel, wieder zu laufen. Nur für mich ganz allein. Schmerzfrei. Mit Lust & Spaß. Vielleicht eine Möglichkeit, das Thema Selbstliebe wieder auf neue Art & Weise zu entdecken. Vielleicht auch eine Möglichkeit, festzustellen, dass sich meine faszinierende Geschichte immer wieder wiederholen lässt. Weil ich das will. Weil ich das kann. Weil ich mich dafür entscheide.
Und vielleicht geht es genau darum. Ankommen ist schön. Der Weg zum Ziel ist schön. Aber die Wertschätzung und die Demut allem gegenüber, wenn du ganz am Boden angekommen bist, wenn du mal ganz oben warst, auch die muss man mal erlebt haben. Und gerne auch immer wieder. Deswegen falle ich. Um festzustellen, wie stark ich sein kann, auf dem Weg zurück. Vielleicht nicht die entspannteste Art zu leben, aber die einzige, die ich mir vorstellen kann.
Nach diesem erkenntnisreichen Tag, sitze ich abends zuhause, checke meine Mails und entdecke eine Nachricht von dem Magazin „Women’s Health“. Ob ich Lust habe, meine Story für ein Dossier über „Selbstliebe“ zu erzählen …
Ja, habe ich.
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